ssoc - sights and sounds of the crisis - Schwarzfahren http://ssoc.teachingthecrisis.net/ssoc/en/tags/schwarzfahren en Shvarts*fahren http://ssoc.teachingthecrisis.net/ssoc/en/node/179 <div class="field field-name-field-research-body field-type-entityreference field-label-above"><div class="field-label">This blog post is part of the investigation:&nbsp;</div><div class="field-items"><div class="field-item even"><a href="/ssoc/en/node/55">Debt&#039;s Life</a></div></div></div><div class="field field-name-body field-type-text-with-summary field-label-hidden"><div class="field-items"><div class="field-item even" property="content:encoded"><p> </p> <p style="margin-bottom: 0cm; line-height: 0.5cm;"><font color="#333333"><font face="Source Sans Pro, sans-serif"><font size="2" style="font-size: 9pt">Schwarzfahren sei ein rassistischer Begriff und gehöre aus dem Sprachgebrauch verboten! So zumindest war es die Forderung eines Münchner Politikers, der die lokale Verkehrsgesellschaft aufforderte, das Wort „Schwarzfahrer“ künftig in den U-Bahnen, Straßenbahnen und Bussen „durch einen anderen Begriff, der nicht-rassistisch ist, (<font size="2">zu) </font>ersetzen“. Die umgangssprachliche Bezeichnung stelle „die Hautfarbe bestimmter Menschen in einen negativen Kontext“.</font></font></font></p> <p style="margin-bottom: 0cm; line-height: 0.5cm;"> </p> <p style="margin-bottom: 0cm; line-height: 0.5cm;"><font color="#333333"><font face="Source Sans Pro, sans-serif"><font size="2" style="font-size: 9pt">Stimmt das? Wie kann ich diesen Begriff nicht nur nicht im Alltag benutzen sondern überhaupt noch in meiner Forschung verwenden, wo es sich doch so zentral auch ums „Schwarzfahren“ dreht? Ich befrage das Internet. Es spricht zu mir: '<em>Martin, beruhige Dich! Das hat alles nichts mit Rassismus zu tun</em>!'</font></font></font><font color="#333333"><font face="Source Sans Pro, sans-serif"><font size="2" style="font-size: 9pt"> Ich beruhige mich!</font></font></font></p> <p style="margin-bottom: 0cm; line-height: 0.5cm;"><font color="#333333" style="line-height: 0.5cm;"><font face="Source Sans Pro, sans-serif"><font size="2" style="font-size: 9pt">Tatsächlich – das lese ich und sagt mir die Etymologie: – findet sich hier doch der Ursprung des Präfixes „Schwarz-“ im Jiddischen. Dort, abgewandelt vom Wort <em>shvarts</em></font></font></font><font color="#333333" style="line-height: 0.5cm;"><font face="Source Sans Pro, sans-serif"><font size="2" style="font-size: 9pt">, heißt es soviel wie arm. Das macht, ergibt und hat Sinn. Denn wer sich kein Ticket leisten kann, weil sie kein Geld hat, fährt, schlicht aus Armut, schwarz. Nicht nur das, Schwarz lässt sich auch farblich ableiten. Etwas wird im Dunklen gemacht, da doch verboten. Und wer kein Geld hat oder anderes Verbotenes tut – weil arm, versteht sich – fährt, sieht, arbeitet: <em>schwarz</em>! Und kauft auf dem <em>Schwarz</em>markt!</font></font></font></p> <p style="margin-bottom: 0cm; line-height: 0.5cm;"> </p> <p style="margin-bottom: 0cm; line-height: 0.5cm;"><font color="#333333"><font face="Source Sans Pro, sans-serif"><font size="2" style="font-size: 9pt">Das beruhigt mich zu Recht, denke ich. Vorerst. Andererseits: Ich möchte nicht in die Hände einer pseudoetymologisch-linguistisch begründeten Legitimierungen spielen, die für einen konservativen, starren Sprachgebrauch eintritt. Es sind nicht zuletzt Junge Freiheit, PI-News und Kopp-Verlag oder eine Bürgerinitiative die für den „Ausländerstopp“ eintritt, die auf die jiddische-Begriffsherkunft verweisen und anitrassistische Sprachkritik ins Lächerliche ziehen wollen. Denn auch wenn „Schwarzfahren“ und die Präfixe „Schwarz-“ in ihrer historischen Entstehung nicht an koloniale, rassisch-rassistische Bezüge und Bedeutungen geknüpft wurden; wenn die entstandenen Begriffe also tatsächlich aus dem Jiddischen heraus in die deutsche Alltagssprache transferiert und in ihrer Bedeutung mit dem Bezug auf „Arm“ und „Armut“  verstanden worden, muss dies nicht bedeuten, dass eine Begriffskritik heutzutage zwangsläufig ins Leere läuft. Der historische Kontext hat sich geändert; Rassismus und Kolonialismus haben sich tiefgreifend in die (Denk)Strukturen in Deutschland eingegraben und erschweren das Erkennen zur Gewohnheit und zum Alltag gewordener rassistischer Elemente unseres Sprechens. Inwieweit nicht schon im jiddischen „Shvarts“ eine rassistische Verknüpfung enthalten ist, hab ich bisher nicht rausfinden können. Immerhin ließe sich für Arm und Armut auch andere Begriffe finden (orem, oremkeit, schwach, dales etc.). Darüberhinaus meint </font></font></font><em><font color="#333333"><font face="Source Sans Pro, sans-serif"><font size="2" style="font-size: 9pt"><span style="font-style: normal">Shvarts</span></font></font></font></em><font color="#333333"><font face="Source Sans Pro, sans-serif"><font size="2" style="font-size: 9pt"> sehr wohl auch schwarz und tritt auch in Verbindung mit Menschen als Schwarze auf.</font></font></font><font color="#666666"><font face="Source Sans Pro, sans-serif"><font size="2" style="font-size: 9pt"><u><a class="sdfootnoteanc" href="#sdfootnote1sym" name="sdfootnote1anc" id="sdfootnote1anc"><sup>1</sup></a></u></font></font></font></p> <p style="margin-bottom: 0cm; line-height: 0.5cm;"><font color="#333333"><font face="Source Sans Pro, sans-serif"><font size="2" style="font-size: 9pt">Eine rassistische Aufladung erhält der Begriff aber spätestens dann, wenn dieser von Schwarzen als mit rassistischem Potential ausgestattetet erkannt wird</font></font></font><font color="#666666"><font face="Source Sans Pro, sans-serif"><font size="2" style="font-size: 9pt"><u><a class="sdfootnoteanc" href="#sdfootnote2sym" name="sdfootnote2anc" id="sdfootnote2anc"><sup>2</sup></a></u></font></font></font><font color="#333333"><font face="Source Sans Pro, sans-serif"><font size="2" style="font-size: 9pt"> und einschlägige ultra-konservative und anti-emanzipatorische Gruppen und Akteure die Kritik als „an den Haaren herbeigezogen“ zu delegitimieren versuchen. Eine begriffliche Auseinandersetzung und Verunsicherung erscheint gerade dann mehr als gerechtfertigt und notwendig!</font></font></font></p> <p style="margin-bottom: 0cm; line-height: 0.5cm;"> </p> <p style="margin-bottom: 0cm; line-height: 0.5cm;"><font color="#333333"><font face="Source Sans Pro, sans-serif"><font size="2" style="font-size: 9pt">Dem Ruf der Kritik folgt leider nicht sofort ein mich vollends zufriedenstellender Lösungsvorschlag. Den will ich hier auch gar nicht bringen, weil ich nicht ein Wort als ausgereift präsentieren will, welches es nicht zu hinterfragen gelte. Ein Konsens mit mir selbst zöge keinerlei gesellschaftliche Denk- und Aushandlungsprozesse nach sich. Ich und wir sind daher auf Vorschläge von uns angewiesen. Das streichen des Begriffes Schwarzfahren ließe sich vielleicht durch die Verwendung schon bestehender Begriffe zur Umschreibung des gleichen Phänomens lösen. Das Zauberwort: <em>Beförderungserschleichung </em></font></font></font><font color="#333333"><font face="Source Sans Pro, sans-serif"><font size="2" style="font-size: 9pt"> ! – Es ist durch seine fast dichterische Theatralik in der Lage, allzu alltägliche Sachverhalte ein wenig abenteuerlicher zu machen, zu dramatisieren und in die Sphäre der Illegalität zu heben. Spannend!<br />Aber nein…!<br />Es muss doch etwas anderes geben. Einen festverankerten Alltagsbegriff durch das Vokabular der Behörden und Verkehrsbetriebe zu ersetzen, hieße auch die darin implizierten Hierarchien und Deutungen zu übernehmen. Für meine Forschung werde ich dafür keine Verwendung finden (wollen).</font></font></font></p> <p style="margin-bottom: 0cm; line-height: 0.5cm;"><font color="#333333"><font face="Source Sans Pro, sans-serif"><font size="2" style="font-size: 9pt">Stattdessen werde ich mich vorerst im weiteren Verlauf meiner Forschung behelfsmäßig einer Wortkonstruktion im Prozess bedienen: </font></font></font><strong><em style="font-size: 12px;">Shvarts*fahren</em></strong> .</p> <p style="margin-bottom: 0cm; line-height: 0.5cm;"><font color="#333333"><font face="Source Sans Pro, sans-serif"><font size="2" style="font-size: 9pt">Dieser Begriff, taugt leider nur zum lesen und schreiben, bleibt aber unaussprechbar und nicht hörbar, verweist auf die hier angesprochenen Diskurse. Der Alltagsbegriff bleibt vorerst erhalten, ohne dass dieser nicht auch verunsichert wird. Er bleibt solange bis es was Besseres gibt. Denn nach den oben genannten Problemen, kann auch mein Vorschlag kein einwandfreier sein. Aber zumindest das kann ich zu hundertprozentiger Sicherheit vertreten: Das wollt ich auch gar nicht!</font></font></font></p> <p style="margin-bottom: 0cm"> </p> <p style="margin-bottom: 0cm"> </p> <p style="margin-bottom: 0cm"> </p> <div id="sdfootnote1"> <p class="sdfootnote" style="margin-left: 0cm; text-indent: 0cm; line-height: 0.5cm;"><a class="sdfootnotesym" href="#sdfootnote1anc" name="sdfootnote1sym" id="sdfootnote1sym">1</a><em>  „</em><em><font color="#333333"><font face="Source Sans Pro, sans-serif"><font size="2" style="font-size: 9pt">shvartse(r) </font></font></font></em><font color="#333333">‚</font><font color="#333333"><font face="Source Sans Pro, sans-serif"><font size="2" style="font-size: 9pt">black person,‘ </font></font></font><em><font color="#333333"><font face="Source Sans Pro, sans-serif"><font size="2" style="font-size: 9pt">shvarts yor </font></font></font></em><font color="#333333">‘</font><font color="#333333"><font face="Source Sans Pro, sans-serif"><font size="2" style="font-size: 9pt">devil, hell’ &lt; lit. ‘black year’ ~ Ger. s</font></font></font><em><font color="#333333"><font face="Source Sans Pro, sans-serif"><font size="2" style="font-size: 9pt">chwarz</font></font></font></em><font color="#333333"> </font><font color="#333333"><font face="Source Sans Pro, sans-serif"><font size="2" style="font-size: 9pt">(+Yidd./Ger. masc. </font></font></font><em>–</em><em><font color="#333333"><font face="Source Sans Pro, sans-serif"><font size="2" style="font-size: 9pt">er</font></font></font></em><font color="#333333"><font face="Source Sans Pro, sans-serif"><font size="2" style="font-size: 9pt">), </font></font></font><em><font color="#333333"><font face="Source Sans Pro, sans-serif"><font size="2" style="font-size: 9pt">Jahr</font></font></font></em><font color="#333333">” </font><font color="#333333"><font face="Source Sans Pro, sans-serif"><font size="2" style="font-size: 9pt">(Southern 1961: 41) In: Southern, Mark R. V. (1961): Contagious Couplings. Transmission of Expressives in Yiddish Echo Phrases. Praeger Publishers.</font></font></font></p> </div> <div id="sdfootnote2"> <p class="sdfootnote" style="margin-left: 0cm; text-indent: 0cm; line-height: 0.5cm;"><a class="sdfootnotesym" href="#sdfootnote2anc" name="sdfootnote2sym" id="sdfootnote2sym">2</a><font color="#333333"><font face="Source Sans Pro, sans-serif"><font size="2" style="font-size: 9pt">  Davon zeugt nicht zuletzt der Kurzfilm „<em>Der Schwarzfahrer</em>“ aus dem Jahr 1992 vom Regisseur Pepe Danquart.</font></font></font> Das Titelbild dieses Artikels zeigt die Schauspielerin Senta Moira aus diesem Film in ihrer Rolle als ältere, bürgerliche Frau die einen jungen Schwarzen Mann und Sitznachbar in einer Berliner Straßenbahn aufgrund seiner Hautfarbe beschimpft.</p> </div> <p> </p> </div></div></div><div class="field field-name-field-tags field-type-taxonomy-term-reference field-label-above"><div class="field-label">Tags:&nbsp;</div><div class="field-items"><div class="field-item even"><a href="/ssoc/en/tags/rassismus" typeof="skos:Concept" property="rdfs:label skos:prefLabel">Rassismus</a></div><div class="field-item odd"><a href="/ssoc/en/tags/shvartsfahren" typeof="skos:Concept" property="rdfs:label skos:prefLabel">Shvarts*fahren</a></div><div class="field-item even"><a href="/ssoc/en/tags/schwarzfahren" typeof="skos:Concept" property="rdfs:label skos:prefLabel">Schwarzfahren</a></div><div class="field-item odd"><a href="/ssoc/en/tags/sprache" typeof="skos:Concept" property="rdfs:label skos:prefLabel">Sprache</a></div></div></div><div class="view view-medialist view-id-medialist view-display-id-entity_view_1 view-dom-id-31df5a32d20882d77f00b756649fb436"> <div class="view-content"> <table class="views-view-grid cols-2"> <tbody> <tr class="row-1 row-first row-last"> <td class="col-1 col-first"> <div class="views-field views-field-field-media-image"> <div class="field-content"><div id="file-164" class="file file-image file-image-jpeg"> <div class="content"> <img typeof="foaf:Image" src="http://ssoc.teachingthecrisis.net/ssoc/sites/default/files/styles/content680maxwidth/public/schwarzfahrer2.jpg" width="480" height="360" alt="" /> </div> </div> </div> </div> </td> </tr> </tbody> </table> </div> </div> Thu, 10 Jan 2013 17:24:22 +0000 Martin Schinagl 179 at http://ssoc.teachingthecrisis.net/ssoc http://ssoc.teachingthecrisis.net/ssoc/en/node/179#comments Sicherheit durch Chauvinismus http://ssoc.teachingthecrisis.net/ssoc/en/blogs/sicherheit-durch-chauvinismus <div class="field field-name-field-research-body field-type-entityreference field-label-above"><div class="field-label">This blog post is part of the investigation:&nbsp;</div><div class="field-items"><div class="field-item even"><a href="/ssoc/en/node/55">Debt&#039;s Life</a></div></div></div><div class="field field-name-body field-type-text-with-summary field-label-hidden"><div class="field-items"><div class="field-item even" property="content:encoded"><p> </p> <p lang="zxx" style="margin-bottom: 0cm" xml:lang="zxx"><font size="3">In der Berliner U-Bahnlinie U2 kam es an einem Mittwoch Anfang Oktober zur besten Rushhourzeit zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Trompeter einer Dreier-Musikerkombo und einem von deren Musik genervtem Fahrgast, der sich über jene letztlich beschwerte. Am Ende eines „hitzigen Wortgefechts“ (BZ-Berlin.de) attackierte einer der Musiker, der Trompeter, den Arbeitskollegen des genervten Fahrgasts, der dazwischen gehen und ihm zur Hilfe eilen wollte. Jener schlug diesem seine Trompete gewaltvoll ins Gesicht. Eine zerbrochene Trompete und mehrere zerbrochene Zähne, drei Festnahmen und ein Behandlungsaufenthalt im Krankenhaus sind das zählbare Resultat. Aber auch ein gefundenes Fressen für BZ, Bild und Berliner Kurier, die davon in gewohnt knapper Manier berichteten und im Netz den Raum für Kommentare lie<font size="3">ß</font>en. Den routinierten Leserinnen aber reichten schon die Codewörter „Trompeter“, „kein fester Wohnsitz“, „Südländer“ und „Rumänien“, um die tiefverankerten Bilder ständig störender, dreister und letztlich auch brutal-gewalttätiger „Zigeuner“ hervorzurufen. Mit einem Set an Angst- und Bedrohungsszenarien, die nur noch gekonnt verknüpft werden müssen, kann nun die gemeine Leserin große gesamtgesellschaftliche Überlegungen zu Einwanderung, Zuwanderung und Multikulturalismus anstellen und zu dem Entschluss kommen, dass das alles nicht funktioniert und nur jene „hier bleiben“ dürften, so ein „Gast“ im Berliner-Kurier.de-Forum, die „hier auch ‚richtig‘ arbeiten“ gingen. </font><font size="3">"Aber", so weiter der Gedankengang, „dann sind wir bestimmt wieder rassistisch und nicht multi-kulti.“</font></p> <p lang="zxx" style="margin-bottom: 0cm" xml:lang="zxx"><span style="font-size: medium;">Richtig, das ist es!</span></p> <p lang="zxx" style="margin-bottom: 0cm" xml:lang="zxx"> </p> <p lang="zxx" style="margin-bottom: 0cm" xml:lang="zxx"><font size="3">Um eines voranzustellen, ich möchte hier nicht auf die Tat an sich eingehen, die wirklich schwerwiegend genug ist, nichts relativieren oder eine moralische Aussage dazu machen. Im Vordergrund steht für mich der Umgang und die Einordnung solcher "Ereignisse", die medial erst einmal aufgegriffen und diskursiv gerahmt werden, durch eine wie auch immer geartete Öffentlichkeit, die Empfängerin und (Re-)Produzentin verschiedenster Bilder zugleich ist. </font><font size="3">Solche Meldungen wie oben aktivieren bei einer Vielzahl von "Mehrheitsdeutschen" eine Reihe an Empörungskategorien, die sehr stark kulturalistisch aufgeladen sind. Das trifft dann, wie in den Foren angesprochen - mal eher implizit, mal explizit -, die Roma und Sinti. In anderen Kontexten stehen "Sozialschmarotzerinnen", Hartz4-lerinnen, Unterschichtenkids, Erwerbslose, Motz-Verkäuferinnen, Obst- und Gemüsehändlerinnen oder "integrationsverweigernde" Kopftuchmädchen im Fokus. Inwieweit sind nicht viele Diskurse um die hier genannten "Problemgruppen" auf einer breiteren Begriffsdefinition kulturalistisch aufgeladen? Unvermeidlich, so scheint es jedenfalls, steigen in Krisenzeiten auch die Feindseligkeiten gegenüber jenen, „die nicht ins Idealbild einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft passen“ (linksnet.de). Und da kreuzen und überkreuzen sich mehrere Argumentationslinien und erzeugen verworren-untrennbare Verknüpfungen kulturalistischen Denkens mit Sozialchauvinismus. Es ist ein Treten immer nach Unten, egal wo sich die Tretende im Sozialraum verortet und zu verorten ist. Kulturalistisch aufgeladen meine ich in dem Sinne hier, dass, so strukturell die Probleme auch sein mögen, eine Kritik häufig auf individuelles Falsch- und Fehlverhalten zielt. Soziale Situationen, Aggressionen, Verhaltensauffälligkeiten sind demnach mehr oder minder bewusste Entscheidungen: selbstgewählt und nur durch den eigenen persönlichen Willen beeinflussbar. </font><span style="font-size: medium;">Das erlaubt eine Distanzierung zu gesellschaftlich prekären Lebenslagen und damit einen Prozess der gesellschaftlichen Entantwortung.</span></p> <p lang="zxx" style="margin-bottom: 0cm" xml:lang="zxx"> </p> <p lang="zxx" style="margin-bottom: 0cm" xml:lang="zxx"><font size="3">Für viele Menschen sind die Berliner U- und S-Bahnen und deren Stationen Orte des Arbeitens, des Geld- und Flaschensammelns, des Bettelns und Zeitungverkaufens. Diese Aktivitäten sind sehr präsent und können manchmal sehr nervig sein: "Wie?, schon wieder das gleiche Lied – und schon wieder in meiner S-Bahn?!", "Nee, heute will ich kein Kleingeld geben; ich hab mir gestern schon 'ne Motz gekauft." </font><span style="font-size: medium;">Es ist eine Konfrontation mit der alltäglichen Prekarität und ihre so sichtbare Öffentlichkeit, die man bestenfalls vermeidet. Orte frei von Armut, dass muss doch heißen, hier ist alles gut! Hausordnungen, Securities, Verordnungen, angedrohte Strafen und Haft sind die Sanktionsmittel, um wie oben genanntes "unerwünschtes Verhalten" aus diesen Orten zu verweisen, um die Umsetzung des Anscheins vermeintlicher sozialer Ordnung herbeizuführen. Verbote des Flaschensammelns, Strafen gegen Schwarzfahren, Verbot des Musikspielens in Bahnen, Trinkverbote, die Konstruktion nicht zum Liegen geeigneter Bänke oder die Idee gleich überhaupt keine aufzustellen, das unablässige Abspielen von Musik in Bahnhofsbereichen über Boxen – das sind alles ganz bewusste Strategien dafür, die Ausführung ganz spezieller Verhalten und Handlungen zu behindern, wenn nicht sogar zu verunmöglichen. Nicht dass dadurch in irgendeiner Hinsicht die Probleme jener Menschen in prekären Lebenslagen strukturell schon gelöst würden. Es ist lediglich eine Verdrängung aus ihrem Wirtschafts- und Lebensraum, den der öffentliche Raum darstellt. </span><span style="font-size: medium;">Vorfälle wie die in der U2 können als Legitimationsgrundlage dienen, nicht nur für das Treffen kulturalistischer und/oder sozialchauvinistischer Aussagen, sondern auch für die Umsetzung weiterer Maßnahmen zur Vermeidung solcher Situationen im Namen der Sicherheit der Fahrgäste. Wie wäre es neben der Installation von weiteren Kameras mit der Einstellung von zusätzlichen Sicherheitsmenschen, die auch ganz nebenbei noch dafür sorgen könnten, dass niemand in den Bahnen und Bahnhöfen übernachtet?</span></p> <p lang="zxx" style="margin-bottom: 0cm" xml:lang="zxx"> </p> <p lang="zxx" style="margin-bottom: 0cm" xml:lang="zxx"><font size="3">Berlin bietet noch eine vergleichsweise offene "Sicherheits"-Struktur, in der sich für jene einige Möglichkeiten bieten, sich den öffentlichen Raum mittels gewisser Strategien für sich und ihre Lebens- und Arbeitspraktiken anzueignen. Ich beobachtete kürzlich erst, wie ein Flötenspieler, der durch eine unglaublich präzise und schnelle Spieltechnik besticht, in den Zwischenstopps von U-Bahn-Wagen zu U-Bahn-Wagen wechselte. Jedesmal stand er vor den Türen bis zum allerletzten Moment, bevor sie sich schlossen, vergewisserte sich mit hektischem aber dennoch geübtem Blick und versteckter Flöte, dass keine Kontrolleurinnen zugestiegen waren, und stapfte dann erst in die Bahn. Nicht bevor die U-Bahn anfuhr holte er das Instrument heraus und begann auf ihm zu spielen. Dies ist nur eine von vielen Strategien zum Unterlaufen der Kontrollmechanismen in U-Bahn(höf)en oder in vielerlei anderen Kontexten. Sie zu erkennen ist schon schwierig genug. Und sie zu Interpretieren umso offener.</font></p> <p lang="zxx" style="margin-bottom: 0cm" xml:lang="zxx"> </p> <p lang="zxx" style="margin-bottom: 0cm" xml:lang="zxx"><font size="3">Verweise:</font></p> <ul><li lang="zxx" style="margin-bottom: 0cm;" xml:lang="zxx"><a href="http://www.linksnet.de/de/artikel/27311" style="font-size: medium;"><font color="#000000" style="font-size: medium;">http://www.linksnet.de/de/artikel/27311</font></a></li> <li lang="zxx" style="margin-bottom: 0cm;" xml:lang="zxx"><a href="http://www.bz-berlin.de/tatorte/pruegel-musikant-schlaegt-fahrgast-zaehne-aus-article1560464.html" style="line-height: 0.18cm;"><font color="#000000"><font size="3">http://www.bz-berlin.de/tatorte/pruegel-musikant-schlaegt-fahrgast-zaehne-aus-article1560464.html</font></font></a></li> <li lang="zxx" style="margin-bottom: 0cm;" xml:lang="zxx"><a href="http://www.berliner-kurier.de/polizei-prozesse/berlin-brutal-u2-nerv-trompeter-schlaegt-fahrgast-zaehne-aus,7169126,20575040.html" style="line-height: 0.18cm;"><font color="#000000"><font size="3">http://www.berliner-kurier.de/polizei-prozesse/berlin-brutal-u2-nerv-trompeter-schlaegt-fahrgast-zaehne-aus,7169126,20575040.html</font></font></a></li> <li lang="zxx" style="margin-bottom: 0cm;" xml:lang="zxx"><font color="#000000"><font size="3">Sebastian Friedrich (Hg.): Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der Sarrazindebatte. Münster 2011.</font></font></li> </ul></div></div></div><div class="field field-name-field-tags field-type-taxonomy-term-reference field-label-above"><div class="field-label">Tags:&nbsp;</div><div class="field-items"><div class="field-item even"><a href="/ssoc/en/tags/kontrolle" typeof="skos:Concept" property="rdfs:label skos:prefLabel">Kontrolle</a></div><div class="field-item odd"><a href="/ssoc/en/tags/bvg" typeof="skos:Concept" property="rdfs:label skos:prefLabel">BVG</a></div><div class="field-item even"><a href="/ssoc/en/tags/wissen" typeof="skos:Concept" property="rdfs:label skos:prefLabel">Wissen</a></div><div class="field-item odd"><a href="/ssoc/en/tags/schwarzfahren" typeof="skos:Concept" property="rdfs:label skos:prefLabel">Schwarzfahren</a></div></div></div><div class="view view-medialist view-id-medialist view-display-id-entity_view_1 view-dom-id-f4531d084ebe757f15bf9c65bf6f1dd6"> <div class="view-content"> <table class="views-view-grid cols-2"> <tbody> <tr class="row-1 row-first row-last"> <td class="col-1 col-first"> <div class="views-field views-field-field-media-image"> <div class="field-content"><div id="file-150" class="file file-image file-image-jpeg"> <div class="content"> <img typeof="foaf:Image" src="http://ssoc.teachingthecrisis.net/ssoc/sites/default/files/styles/content680maxwidth/public/BVGVideo.jpg" width="460" height="307" alt="" /> </div> </div> </div> </div> </td> </tr> </tbody> </table> </div> </div> Mon, 12 Nov 2012 08:54:05 +0000 Martin Schinagl 149 at http://ssoc.teachingthecrisis.net/ssoc http://ssoc.teachingthecrisis.net/ssoc/en/blogs/sicherheit-durch-chauvinismus#comments