Sicherheit durch Chauvinismus

This blog post is part of the investigation: 

 

In der Berliner U-Bahnlinie U2 kam es an einem Mittwoch Anfang Oktober zur besten Rushhourzeit zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Trompeter einer Dreier-Musikerkombo und einem von deren Musik genervtem Fahrgast, der sich über jene letztlich beschwerte. Am Ende eines „hitzigen Wortgefechts“ (BZ-Berlin.de) attackierte einer der Musiker, der Trompeter, den Arbeitskollegen des genervten Fahrgasts, der dazwischen gehen und ihm zur Hilfe eilen wollte. Jener schlug diesem seine Trompete gewaltvoll ins Gesicht. Eine zerbrochene Trompete und mehrere zerbrochene Zähne, drei Festnahmen und ein Behandlungsaufenthalt im Krankenhaus sind das zählbare Resultat. Aber auch ein gefundenes Fressen für BZ, Bild und Berliner Kurier, die davon in gewohnt knapper Manier berichteten und im Netz den Raum für Kommentare ließen. Den routinierten Leserinnen aber reichten schon die Codewörter „Trompeter“, „kein fester Wohnsitz“, „Südländer“ und „Rumänien“, um die tiefverankerten Bilder ständig störender, dreister und letztlich auch brutal-gewalttätiger „Zigeuner“ hervorzurufen. Mit einem Set an Angst- und Bedrohungsszenarien, die nur noch gekonnt verknüpft werden müssen, kann nun die gemeine Leserin große gesamtgesellschaftliche Überlegungen zu Einwanderung, Zuwanderung und Multikulturalismus anstellen und zu dem Entschluss kommen, dass das alles nicht funktioniert und nur jene „hier bleiben“ dürften, so ein „Gast“ im Berliner-Kurier.de-Forum, die „hier auch ‚richtig‘ arbeiten“ gingen. "Aber", so weiter der Gedankengang, „dann sind wir bestimmt wieder rassistisch und nicht multi-kulti.“

Richtig, das ist es!

 

Um eines voranzustellen, ich möchte hier nicht auf die Tat an sich eingehen, die wirklich schwerwiegend genug ist, nichts relativieren oder eine moralische Aussage dazu machen. Im Vordergrund steht für mich der Umgang und die Einordnung solcher "Ereignisse", die medial erst einmal aufgegriffen und diskursiv gerahmt werden, durch eine wie auch immer geartete Öffentlichkeit, die Empfängerin und (Re-)Produzentin verschiedenster Bilder zugleich ist. Solche Meldungen wie oben aktivieren bei einer Vielzahl von "Mehrheitsdeutschen" eine Reihe an Empörungskategorien, die sehr stark kulturalistisch aufgeladen sind. Das trifft dann, wie in den Foren angesprochen - mal eher implizit, mal explizit -, die Roma und Sinti. In anderen Kontexten stehen "Sozialschmarotzerinnen", Hartz4-lerinnen, Unterschichtenkids, Erwerbslose, Motz-Verkäuferinnen, Obst- und Gemüsehändlerinnen oder "integrationsverweigernde" Kopftuchmädchen im Fokus. Inwieweit sind nicht viele Diskurse um die hier genannten "Problemgruppen" auf einer breiteren Begriffsdefinition kulturalistisch aufgeladen? Unvermeidlich, so scheint es jedenfalls, steigen in Krisenzeiten auch die Feindseligkeiten gegenüber jenen, „die nicht ins Idealbild einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft passen“ (linksnet.de). Und da kreuzen und überkreuzen sich mehrere Argumentationslinien und erzeugen verworren-untrennbare Verknüpfungen kulturalistischen Denkens mit Sozialchauvinismus. Es ist ein Treten immer nach Unten, egal wo sich die Tretende im Sozialraum verortet und zu verorten ist. Kulturalistisch aufgeladen meine ich in dem Sinne hier, dass, so strukturell die Probleme auch sein mögen, eine Kritik häufig auf individuelles Falsch- und Fehlverhalten zielt. Soziale Situationen, Aggressionen, Verhaltensauffälligkeiten sind demnach mehr oder minder bewusste Entscheidungen: selbstgewählt und nur durch den eigenen persönlichen Willen beeinflussbar. Das erlaubt eine Distanzierung zu gesellschaftlich prekären Lebenslagen und damit einen Prozess der gesellschaftlichen Entantwortung.

 

Für viele Menschen sind die Berliner U- und S-Bahnen und deren Stationen Orte des Arbeitens, des Geld- und Flaschensammelns, des Bettelns und Zeitungverkaufens. Diese Aktivitäten sind sehr präsent und können manchmal sehr nervig sein: "Wie?, schon wieder das gleiche Lied – und schon wieder in meiner S-Bahn?!", "Nee, heute will ich kein Kleingeld geben; ich hab mir gestern schon 'ne Motz gekauft." Es ist eine Konfrontation mit der alltäglichen Prekarität und ihre so sichtbare Öffentlichkeit, die man bestenfalls vermeidet. Orte frei von Armut, dass muss doch heißen, hier ist alles gut! Hausordnungen, Securities, Verordnungen, angedrohte Strafen und Haft sind die Sanktionsmittel, um wie oben genanntes "unerwünschtes Verhalten" aus diesen Orten zu verweisen, um die Umsetzung des Anscheins vermeintlicher sozialer Ordnung herbeizuführen. Verbote des Flaschensammelns, Strafen gegen Schwarzfahren, Verbot des Musikspielens in Bahnen, Trinkverbote, die Konstruktion nicht zum Liegen geeigneter Bänke oder die Idee gleich überhaupt keine aufzustellen, das unablässige Abspielen von Musik in Bahnhofsbereichen über Boxen – das sind alles ganz bewusste Strategien dafür, die Ausführung ganz spezieller Verhalten und Handlungen zu behindern, wenn nicht sogar zu verunmöglichen. Nicht dass dadurch in irgendeiner Hinsicht die Probleme jener Menschen in prekären Lebenslagen strukturell schon gelöst würden. Es ist lediglich eine Verdrängung aus ihrem Wirtschafts- und Lebensraum, den der öffentliche Raum darstellt. Vorfälle wie die in der U2 können als Legitimationsgrundlage dienen, nicht nur für das Treffen kulturalistischer und/oder sozialchauvinistischer Aussagen, sondern auch für die Umsetzung weiterer Maßnahmen zur Vermeidung solcher Situationen im Namen der Sicherheit der Fahrgäste. Wie wäre es neben der Installation von weiteren Kameras mit der Einstellung von zusätzlichen Sicherheitsmenschen, die auch ganz nebenbei noch dafür sorgen könnten, dass niemand in den Bahnen und Bahnhöfen übernachtet?

 

Berlin bietet noch eine vergleichsweise offene "Sicherheits"-Struktur, in der sich für jene einige Möglichkeiten bieten, sich den öffentlichen Raum mittels gewisser Strategien für sich und ihre Lebens- und Arbeitspraktiken anzueignen. Ich beobachtete kürzlich erst, wie ein Flötenspieler, der durch eine unglaublich präzise und schnelle Spieltechnik besticht, in den Zwischenstopps von U-Bahn-Wagen zu U-Bahn-Wagen wechselte. Jedesmal stand er vor den Türen bis zum allerletzten Moment, bevor sie sich schlossen, vergewisserte sich mit hektischem aber dennoch geübtem Blick und versteckter Flöte, dass keine Kontrolleurinnen zugestiegen waren, und stapfte dann erst in die Bahn. Nicht bevor die U-Bahn anfuhr holte er das Instrument heraus und begann auf ihm zu spielen. Dies ist nur eine von vielen Strategien zum Unterlaufen der Kontrollmechanismen in U-Bahn(höf)en oder in vielerlei anderen Kontexten. Sie zu erkennen ist schon schwierig genug. Und sie zu Interpretieren umso offener.

 

Verweise: