Im September und November 2012 haben sich in Lissabon Hunderttausende in Demonstrationen und Streiks gegen die Sparmaßnahmen der Regierung zur Wehr gesetzt. Klangaufnahmen von diesen Protesten und von Interviews mit Aktivist_innen bilden das Datenmaterial dieser Forschung. Ich gehe davon aus, dass Affekte in Protesten eine auditiv wahrnehmbare Dimension haben, mit Auswirkungen auf Zuhörende, auf die Forscherin und den Forschungsprozess. Eine Soundanalyse bietet einen neuen, nicht nur auf den textlichen Inhalt begrenzten Zugang.
Diese Gedanken haben sich für mich erst im Laufe der Forschung und der Analyse des Materials als zentral herausgestellt. Zunächst hatte ich Schwierigkeiten, mit der experimentellen Herangehensweise der Forschung mit Sound zurechtzukommen und sie in meiner Forschung zu aktuellen Protesten in Portugal anzuwenden. Ich hatte zwar viele Stunden an Soundaufnahmen von verschiedenen Protesten und Interviews mit Aktivist_innen gesammelt, wusste aber nicht so richtig, wie ich dieses Material nun auswerten sollte und worin der Mehrwert gegenüber mir schon bekannten Methoden wie Feldtagebuchaufzeichnungen lag. Doch dann gab es einen Schlüsselmoment, der mich ermutigte, doch noch genauer hinzuhören. Bei der Vorstellung einer Soundaufnahme im Seminar, die ich bei einer Sitzblockade im Rahmen eines Streikpostens gemacht hatte, war ich überrascht: Ohne die Sprache zu sprechen und den Kontext zu kennen, haben die Zuhörenden doch viel verstanden. Sie hörten Körper, die sich schnell bewegten, und eine kollektive Performance von Stimmen. Und sie konnten auch hören, wie ich mich als Forscherin in dieser Situation positionierte – ein Aspekt, den ich bis jetzt völlig ignoriert hatte: Sie verstanden, dass ich mich der Sitzblockade mit dem Aufnahmegerät abwechselnd näherte und mich von ihr entfernte, und dass ich Abstand nahm, als Polizei zu hören war. Durch die Aufnahme meiner physischen Reaktion auf die Situation wurde ein Teil der Atmosphäre des Streiks hörbar.
Diese Erfahrung zeigte mir, dass es sich doch lohnt, bewusst auf Inhalte zu achten, die nicht rein visuell erfassbar sind. Außerdem war sie ein Anlass, neu über Objektivität und Subjektivität im Forschungsprozess und über die Bedeutung von Körperlichkeit bei politischen Protesten nachzudenken.
Ungefähr zur gleichen Zeit begann ich, mich auf theoretischer Basis mit der affektiven und emotionalen Dimension von Protesten zu beschäftigen. Laut Brian Massumi, der sich wiederum auf Spinoza bezieht, ist Affekt eine Ressource von Kreativität und Potential. Ihre Logik zu untersuchen sei essentiell, um Macht im politischen Kontext zu verstehen. Massumi fordert, dass Affektmodulation auch in alternativen politischen Praktiken genutzt werden soll. Mich interessierte, inwiefern verschiedene Gruppen von Aktivist_innen in Lissabon Affektmodulation bei Protesten einsetzen, um Ziele wie etwa die Teilnahme möglichst vieler Personen an Demonstrationen zu erreichen.
Nach der Listening Session im Seminar wurde mir bewusst, dass es genau diese affektive Dimension ist, die durch die Aufnahme hörbar wurde. Affekte sind etwas, das zwischen Körpern stattfindet und sich körperlich manifestiert. Über sie nachzudenken, stellte sich also als sinnvolle Ergänzung heraus, um das, was zwischen Körpern in Situationen wie einem Streikposten passiert, zu verstehen.
Ich möchte in diesem Bericht einen Schwerpunkt auf die Methoden legen; trotzdem werde ich nicht umhin kommen, mein methodisches Vorgehen im Zusammenhang mit theoretischen Konzepten zu setzen, da eine gegenseitige Verwobenheit besteht. Ich gehe also davon aus, dass Affekte in politischen Protesten nicht nur große Bedeutung haben, sondern dass sie auch – zumindest teilweise – hörbar sind. Sie können durch die Klänge von Protesten verstanden werden: Die Art, wie jemand bei einem Interview spricht, nicht nur der Inhalt eines politischen Slogans sondern auch, wie er gerufen wird, die Tatsache, dass manches auf einer Demonstration hörbar ist und manches nicht etc. Und ich nehme auch an, dass Zuhörende von Klängen affiziert werden können, dass die Klänge also bestimmte Affekte bei ihnen auslösen. Daraus ergaben sich für mich verschiedene Fragen, die zentral für die Forschung werden sollten: Wie klingt Affekt in Demonstrationen und Streiks, und welches Potential setzt er frei? Gibt es Unterschiede in der affektiven Dimension – und der Nutzung von Affektmodulation – zwischen verschiedenen Arten von Protest? Was kann eine Reflektion über ihren Klang zur Untersuchung sozialer Bewegungen beitragen?
Das Material habe ich während einer mehrwöchigen Feldforschung im September und einer zweiten, kürzeren Forschungsphase im November 2012 in Lissabon aufgenommen. In beiden Phasen fanden jeweils wichtige Proteste statt. Am 15. September rief das Protestbündnis Que se lixe a troika, das sich erst wenige Wochen zuvor formiert hatte, zu einer Demonstration auf, die eine der größten in den letzten Jahrzehnten in Portugal werden sollte. Wenige Tage zuvor hatte Premierminister Pedro Passos Coelho Steuererhöhungen im Rahmen neuer Sparmaßnahmen angekündigt, die für die Mehrheit der portugiesischen Bevölkerung massive Lohnkürzungen bedeutet hätten – sicherlich der Hauptgrund für die hohe Beteiligung. In den folgenden Wochen hörten die Proteste nicht auf, bis am 14. November viele dem Aufruf zum Generalstreik der CGTP folgten, einem der beiden großen portugiesischen Gewerkschaftsverbände.
Auf diesen beiden Protestveranstaltungen liegt der Schwerpunkt meiner Forschung. Das Material besteht nicht nur aus Tonaufzeichnungen, die ich im Feld – also während der Demonstrationen und der Streikposten – gemacht habe, sondern auch aus Feldnotizen zu teilnehmenden Beobachtungen und informellen Gesprächen mit Aktivist_innen, aus Interviewaufnahmen mit Aktivist_innen und den zugehörigen Feldtagebuchaufzeichnungen. Ich halte es für sinnvoll, mit einem Einblick in meinen theoretischen Hintergrund zu beginnen, bevor ich einige auditive Aspekte in den Fokus stelle.¹
Affekt in der Erforschung von sozialen Bewegungen – ein kurzer Überblick über den theoretischen Hintergrund
Bis vor kurzem wurde die Thematisierung von Emotionen und Affekten in Forschungen über soziale Bewegungen meist tunlichst vermieden, und auch heute ist der Umgang damit ambivalent. Ein Grund dafür ist die Gleichsetzung von Emotionen mit dem Irrationalen, einhergehend mit einer Pathologisierung und Delegitimierung alternativer politischer Praktiken, wie sie etwa von Gustave Le Bon in seiner Massenpsychologie entwickelt wurde und noch heute in hierarchisierten politischen und medialen Diskursen auffindbar ist.²
Mit dieser Problematik im Hinterkopf habe ich mich dem Thema zunächst von Brian Massumis Affekt-Begriff ausgehend genähert, um diesen dann im Vergleich mit anderen theoretischen Ansätzen zu ergänzen und zu relativieren.
Massumi definiert Affekt mit der Fähigkeit eines Körpers, zu affizieren und affiziert zu werden (Massumi 2010:59). Affekt ist nicht nur individuell und subjektiv, sondern der Fokus liegt auf dem, was dazwischen liegt, auf potentiellen Beziehungen zwischen Körper und ihrer Umgebung, auf Interaktionen. Nach Spinoza ist Affekt eine Art vages, körperliches Denken, das Potential freisetzt. Wie Massumi erklärt, gilt dies sogar für allgemein als negativ geltende Affekte wie Wut, da diese zum Beispiel die Rekonfiguration einer Situation erzwinge.
Für Massumi ist die Unterscheidung zwischen Affekt als offen, unbenannt und unbewusst und Emotion als sein kodierter, in konventionellen Worten artikulierter und kanalisierter Ausdruck wichtig; für diese Arbeit sehe ich aber von einer Trennung ab und betrachte Affekt und Emotion stattdessen als zwei verschiedene Komponenten, die nur unterschiedliche Schwerpunkte legen, aber zutiefst miteinander verwoben sind.³ Affekte sind weder völlig unbewusst noch völlig bewusst. Sie sind zwar fluid und nicht immer artikulierbar, aber auch nicht autonom oder präsozial, da sie immer von und zwischen Menschen produziert werden und daher auch immer von sozialen Konventionen und emotionalen Kodierungen beeinflusst sind – selbst, wenn diese von Individuen oder Gruppen gebrochen werden können.⁴
Eine Reduzierung von Affekten auf das Unbewusste würde außerdem eine akteurszentrierte Perspektive außer Kraft setzen. Affekte sind nicht immer logisch und vorhersehbar, aber sie können auch rationale Praktiken sein, die performativ eingesetzt werden um bestimmte Ziele zu erreichen, z.B. durch ein bewusstes Benennen von bislang unbenannten Emotionen, wie Gould am Beispiel von feministischen Bewegungen zeigt (Gould 2010:34). Monique Scheer hat dafür den Begriff „Emotionspraktiken“ geprägt (Scheer 2011:68).
Trotzdem war Massumis Konzept wichtig für meine Analyse – seine Betonung der Körperlichkeit und des Dazwischens hilft, Subjektivität neu zu denken, wozu ich später zurückkommen werde. Außerdem legt er einen Schwerpunkt auf die Bedeutung von Affekt und die Kontrolle von Menschen durch Affektmodulation in kontemporären politischen Praktiken (vgl. Massumi 2010). Dies ließ mich fragen: Was ist die Funktion und das Potential von Affekten in den Lissabonner Protesten als alternative politische Praktiken, und wie werden sie eingesetzt? Die Frage, wie davon nicht zuletzt auch ich als Forscherin beeinflusst werde, war wichtig für meine methodische Herangehensweise.
Meine Erfahrungen mit Soundaufnahmen als ethnographische Methode und die Hörbarkeit von Affekt
Wir haben uns im Seminar Klang als Methode sehr experimentell angenähert. Die Herangehensweise hatte wenig damit zu tun, wie Sound Studies beispielsweise in der gleichnamigen Forschungsrichtung gelehrt werden. Natürlich ist mir klar, dass wir im Alltag viel zu wenig zuhören und es Sinn macht, erst einmal zu lernen, richtig hinzuhören, aber es hat lange gedauert, bis ich das in meiner Forschung umsetzen und eine Verbindung zu meinen Themen herstellen konnte.
Das Modell der vier Dimensionen des Hörens von Pierre Schaeffer (vgl. Chion 1983) hat mir dabei geholfen, obwohl ich es nicht systematisch angewandt habe. Wenn Menschen gefragt werden, was sie hören, identifizieren sie normalerweise die Quelle des Tons. Beim Hören einer Aufnahme einer großen Demonstration würden beispielsweise viele sagen, sie hören politische Slogans, ein Megafon und Trillerpfeifen. Schaeffers Modell ermöglicht es, sich über andere Dimensionen als die Indexikalität Gedanken zu machen, wie etwa die soziale und symbolische Bedeutung eines gewissen Tons, Erinnerungen, die ein Soundobjekt bei den Hörenden auslöst – und körperliche Reaktionen darauf. Die gleiche Aufnahme der Demonstration könnte für die Zuhörenden zum Beispiel nach Energie, Wut und Empörung klingen, sie könnten hören, dass das Mikrofon inmitten der Menge positioniert war, dass die Aufnahme bei ihnen Gänsehaut auslöste oder sie plötzlich aufgeregt waren, weil sie sich an eine erfolgreiche Demonstration erinnerten, an der sie selbst teilgenommen hatten.
Beim wiederholten Hören der Soundobjekte der Proteste und Streiks, die ich in Lissabon aufgenommen hatte, wurde mir bewusst, dass die affektive Dimension der Situationen auditiv anders übermittelt werden kann als durch Feldnotizen. Die Situation im Seminar, die ich in der Einleitung beschrieben hatte, ist nur ein Beispiel dafür, dass dies auch funktioniert, wenn Andere die Aufnahmen hören. Durch Sound werden Menschen affiziert – wahrscheinlich, weil wir auch mit unseren Körpern darauf reagieren, wie ich mit Schaeffer deutlich machen wollte. Wie Brandon LaBelle schreibt, kann Sound nicht ignoriert werden, sondern generiert Partizipation und bringt Körper zusammen (LaBelle 2010:xxiv).
Trotz des Mehrwerts durch die Analyse von Sound gerade im Zusammenhang mit Affekt war mir jedoch nicht klar, wie ich Schaeffers Modell und die Soundanalyse allgemein für meine Auswertung systematisieren könnte. Daran müsste ich bei einer Arbeit mit Sound in der Zukunft noch arbeiten.
Ich denke, dass das Einsetzen von Listening Sessions mit Aktivist_innen nach dem Schema von Ultra Red sehr sinnvoll für eine gemeinsame Reflektion der aktivistischen Arbeit ist, aber für mich war eine solche Herangehensweise aufgrund meiner Position im Feld nicht realisierbar. Ein wirklich kollaboratives Vorgehen war leider nicht möglich, da ich zu den Aktivist_innen vor der Forschung keine Beziehungen hatte, nicht im Aktivist_innenmilieu involviert war und nur wenig Zeit für meine Forschung im Ausland hatte. Allerdings war ich überrascht über das Interesse und die positiven Rückmeldungen zur Klanganalyse als Methode, die ich im Rahmen des Workshops „Protestos e Movimentos Sociais Contemporâneos em Portugal“ im Februar 2013 bekommen habe. Ich fände es interessant, auch in Zukunft von der Textzentriertheit abzuweichen, die akademisches Wissen meiner Meinung nach auch oft so elitär macht, und mit der Analyse von Klang zu arbeiten. Allerdings müssten die Methode des Aufnehmens selbst und die Analyse der Aufnahme noch deutlich systematischer gestaltet werden, als ich das bis jetzt gemacht habe.
Aufnahmegeräte sind weniger selektiv als das menschliche Ohr. Im Feld habe ich das eingesetzt, indem ich versucht habe, sogenannte Soundscapes nach Murray Schafer aufzunehmen (Meintjes et al. 2010:330), um Situationen im Nachhinein so komplett wie möglich zu hören und diese Erfahrung auch anderen Zuhörenden bieten zu können. Man muss sich jedoch bewusst sein, dass dies nicht die nötige Reflektion im wissenschaftlichen Prozess ersetzt. Wie bei allem empirischen Material sind es sind immer noch wir als Wissenschaftler_innen, die entscheiden, was hörbar gemacht wird und was still bleibt, und diese Entscheidungen müssen hinterfragt werden.
Ergebnisse der Forschung – Klänge von Emotionspraktiken in den Lissabonner Protesten
Massumi fordert eine performative und theatralische Annäherung an Macht (Massumi 2010:58). Was bedeutet dies für Affekt in Protesten, und wie wird das Potential der Affektmodulation schon jetzt genutzt?
Eines der Ergebnisse meiner Forschung war, dass Aktivist_innen sowohl bei den Demonstrationen von Que se lixe a troika als auch im Rahmen des Generalstreiks Emotionspraktiken nach Monique Scheer nutzten, bei denen das Auditive eine wichtige Rolle spielte. Im Folgenden erläutere ich zwei Beispiele dafür.
Hörbar die Normalität unterbrechen: Der Generalstreik am 14. November
Die Nutzung von Sounds durch Einzelne und Gruppen spielte eine wichtige Rolle, um Affekte im portugiesischen Generalstreik am 14. November 2012 zu generieren.
Wenn Gruppen, die keine Stimme haben, weil sie sich nicht von der politischen Elite repräsentiert fühlen, lautstark präsentieren, praktizieren sie Politik nach der Definition von Jaques Rancière: Sie machen sich hörbar und brechen mit der herrschenden Ordnung (Rancière 2002). In Protesten sind Klänge ein Werkzeug, um wortwörtlich eine Stimme zu bekommen und andere zu affizieren. Wie Brendon LaBelle schreibt, produzieren Demonstrationen eine Hörbarkeit „that seeks to overturn or overwhelm the written record, the law, and house rule with a meaning determined by volume“ (LaBelle 2010:109). Aktivist_innen setzen Klänge ein, um bestimmte Effekte bei den Protestierenden und auch bei Nichtbeteiligten zu evozieren. Einer dieser Effekte ist die Unterbrechung der Normalität, wie ich durch die Beschreibung eines Ereignisses zeigen werde, das sich während des Streikpostens der Fahrer_innen der Lissabonner Stadtbusse zugetragen hat.
Ich war gerade mit einer Gruppe von Aktivist_innen beim Sitz des Unternehmens in einem Randbezirk Lissabons angekommen, als die Polizei anfing, eine Sitzblockade der Streikenden aufzulösen, die zum Zweck errichtet worden war, arbeitenden Fahrer_innen am Einhalten des Notfahrplanes zu hindern. Alles ging sehr ruhig und routiniert vor sich – die Polizisten trugen die Streikenden einzeln weg und setzten sie nach ein paar Metern wieder ab. Plötzlich begann eine junge Streikende zu schreien und zu kreischen, als sie vom Boden aufgehoben wurde, und hörte erst auf, als der Polizist sie wieder absetzte. Ein neben mir stehender Aktivist sagte zu mir, dass sie absichtlich schreie und ihr nichts passiere.
Die junge Protestierende führte eine Emotionspraktik nach Monique Scheer durch; von einem rationalen Blickwinkel aus war es nicht nötig, in dieser Situation zu schreien, da ihr Schreien nichts am Verhalten der Polizisten veränderte und keinen Einfluss auf den Verlauf der Situation hatte, aber sie nutzte ihre Stimme und damit die Fähigkeit ihres Körpers, andere Körper zu affizieren. Die Aktivistin wandte emotionale Codes an, um die Routine zu stören. In einer emotionalen Gemeinschaft wie dieser löst ein solches Verhalten bestimmte Affekte aus (Rosenwein 2002: 842) – Schreien lässt Menschen nicht kalt, wie die beschwichtigende Reaktion des Aktivisten neben mir zeigte. Doch welchen Zweck hat Affekt in politischen Protesten, wie Emma Dowling rhetorisch fragt, wenn nicht die Unterbrechung und Störung von Normalität (Dowling 2012a)?
Que se lixe a troika und die Nutzung emotionsgeladener Symbolik⁵
In der eben beschriebenen Situation im Rahmen des Streikpostens wurde Affektmodulation von einer Einzelperson genutzt, um hörbar zu stören. Genauso können durch Affekte aber auch Körper zusammengebracht werden, und es kann eine Atmosphäre der Zusammengehörigkeit geschaffen werden. LaBelle betont die Bedeutung von Musik bei Demonstrationen (LaBelle 2010:115). In der Geschichte Portugals spielt sie eine besondere Rolle: Bei der Nelkenrevolution 1974 waren es zwei Lieder, die als Zeichen zum Beginn des Aufstandes dienten. Die Revolution stellt allgemein einen Moment in der portugiesischen Geschichte dar, der ein großes Potential an Affizierung innehat. Die kollektive Erinnerung daran ist voll von emotional aufgeladener Symbolik: Rote Nelken in Gewehrläufen, ein Lied mit einem Text voller Solidarität und Brüderlichkeit als Weckruf aus Jahrzehnten der Unterdrückung. Mich hat in meiner Forschung besonders überrascht, dass dies nicht nur ein verstaubter Diskurs ist, dessen Symbolik immer noch vor allem von der Kommunistischen Partei Portugals (PCP) und der ihr nahestehenden CGTP vereinnahmt wird, sondern die Protestierenden sich mit ihren Praktiken tatsächlich stark auf dieses Ereignis vor fast 40 Jahren beziehen.
Bei den Demonstrationen von Que se lixe a troika spielen verschiedene Lieder eine bedeutende Rolle, die damals als Protestsongs in die Geschichte eingingen. Besonders häufig wurde Grândola, Vila Morena des Protestliedermachers Zeca Afonso gesungen, das bekannteste und symbolträchtigste von allen.
Ich argumentiere, dass die Aktivist_innen vor allem wegen seines affektiven Potentials darauf zurückgreifen. Es handelt sich um eine Art verkörperlichte affektive Erinnerung – die Symbolik der Nelkenrevolution wird benutzt, um ein Gefühl von Gemeinschaft, Solidarität und Macht zu schaffen. In diesem Fall ist die affektive Dimension deutlich wichtiger als die ideologische – die Revolution hält keine tatsächlichen Auswege aus der gegenwärtigen Situation bereit, aber die Affekte sind ähnlich: Viele Menschen fühlen sich nicht von der Regierung repräsentiert, und sie fühlen sich völlig machtlos demgegenüber. Diese Emotionen und die kollektive Performance der Körper beim Singen von Grândola ist wichtiger als der politische Kontext. Das Lied wurde in den Demonstrationen, die ich begleitete, unzählige Male gesungen; meistens stimmten die Organisator_innen es an, manchmal wurde es vom Original auf Tonband begleitet, andere Male von irgendeiner kleinen Gruppe in der Menge gesungen. Interessant ist, dass die Aktivist_innen von Que se lixe a troika vor kurzem anfingen, das Potential von Grândola systematisch in ihrem politischen Aktivismus einzusetzen. Eine große Demonstration im März 2013, die schon nach meiner eigentlichen Forschungsphase stattfand, hatte das Lied als zentrales Thema: Vom Motto angefangen, das mit „O povo é quem mais ordena“ – „Das Volk ist es, das am meisten regiert“ – die wohl bekannteste Liedzeile zitiert, bis hin zu medienwirksamen Aktionen, bei denen öffentliche Reden von Regierungspolitikern schon Wochen davor durch Grândola-Gesänge übertönt wurden, drehte sich alles um Grândola. Höhepunkt war ein zuvor angekündigtes und in mehreren Städten simultan stattfindendes gemeinsames Singen des Liedes am Ende der Protestkundgebung. Dieses Beispiel zeigt, wie Klänge und ihre affizierende Wirkung als politische Praxis zur Affektmodulation genutzt werden können. Nicht nur der Inhalt des Liedes steht dabei im Vordergrund, sondern auch die Atmosphäre, die dadurch geschaffen wird, das, was zwischen den Körpern beim Singen und Zuhören passiert. Interessant ist allerdings auch hier die Frage, wie weit dieses bewusste Beeinflussen von Emotionen gehen kann, um noch zu funktionieren. Wie Deborah Gould schreibt, geht das Potential von Affekten verloren, wenn diese zu sehr bewusst gelenkt werden. Affekt kann nur bis zu einem gewissen Punkt geplant werden – alles andere ist ungewiss und unvorhersehbar. Auch bei Que se lixe a troika wurde dies deutlich. Nach der Abschlusskundgebung mit dem großen Grândola-Finale verlief die Demonstration schnell im Sand; im Gegensatz zu früheren Demonstrationen folgten keine Platzbesetzungen oder spontanen Protestzüge in Richtung des Parlaments. In Gesprächen mit einzelnen Protestierenden waren es gerade die fehlende Emotionalität und Spontaneität der Aktion und die reine Symbolhaftigkeit des Liedes, die mir als Gründe dafür genannt wurde. Zu früheren Zeitpunkten der Forschung wurden mir von Aktivist_innen neuer sozialer Bewegungen ähnliche Aspekte als Negativmerkmale von gewerkschaftlichen und parteipolitischen Protesten genannt, von denen sie sich mit ihren (auch affektiv) offeneren Protesten abgrenzten. Damit reagieren sie auch auf ein Bedürfnis nach anderen Formen politischer Subjektivitäten.⁶
Ausblick: Die affizierte Forscherin
Das Arbeiten mit Affekt als theoretischem Konzept und Sound als Methode ergänzte sich meiner Ansicht nach, stellte mich als Forscherin aber auch vor neue Herausforderungen und hielt mich dazu an, über meine Rolle im Forschungsprozess noch einmal neu nachzudenken. Affekt bestimmt keine kollektive Identität, sondern einen fluiden, nicht definierten Zustand, der neuen Formen nicht-repräsentativer Demokratie entspricht. Sich auf dieses Konzept zur Erforschung von Protest zu berufen, beinhaltet daher auch eine Art Subjektivitätskritik durch die Methodik. Wenn Affekt eine Dekonstruktion des Individuums ermöglicht, handelt es sich nicht nur um eine Theorie, sondern hat auch methodologische Konsequenzen. Liegt der Fokus auf den Beziehungen zwischen Menschen und Körpern, so ist eine Forschungsperspektive nötig, die auch die Affizierung der Forscherin berücksichtigt, denn diese zeigt mehr als nur einen individuellen Zustand. Es gibt immer etwas Objektives im Subjektiven, auch, was die Bedingungen betrifft, in denen Wissenschaftler_innen Wissen produzieren.
Meine Erfahrungen beim Generalstreik zeigen, dass das Erforschen von Protesten auch den Körper der Forscherin involviert. Inmitten eines Sitzstreiks um vier Uhr früh ist es einfach unmöglich, sich nicht vom Protest berühren zu lassen. Die Tatsache, dass ich mich unwohl gefühlt und eine Gänsehaut bekommen habe, als ich das Mädchen schreien gehört habe, sollte nicht ignoriert werden, denn sie sagt etwas aus über die Funktion von Affekt und Emotionspraktiken. Natürlich macht es wenig Sinn, anzunehmen, dass alle gleich fühlen, aber meine Affizierung kann ein Indikator sein für das affektive Potential einer Interaktion. Anstatt Gefühle als unerwünschte Nebeneffekte wissenschaftlicher Arbeit zu ignorieren, sollte man sie also vielmehr nutzen, indem man sich fragt: Wie können unsere eigenen Affekte zur Analyse beitragen, und welche Art von Material bieten sie? So könnte eine dichte Beschreibung im eigentlichen Sinne möglich werden.
Literatur
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¹ Wegen des Schwerpunkts auf die Methoden werde ich einige Inhalte meiner Forschung, vor allem Ergebnisse zur Rolle von Affekten in den Lissabonner Protesten, die nicht rein auditiv fassbar sind, nur am Rande erläutern. Einen besseren Einblick in die nicht-auditiven Aspekte gibt ein Text, den ich in einem Workshop zu kontemporären sozialen Bewegungen in Portugal am 21.02.13 präsentiert habe. Siehe Auer 2013.
² Ein Überblick über die ambivalente Sicht auf Emotionen in der Geschichte der Erforschung sozialer Bewegungen findet sich ebenfalls bei Auer 2013.
³ Damit schließe ich mich Michael Hardt (vgl. Hardt 2007) und Deborah Gould (Gould 2010:31) an. Für eine detailliertere Erklärung meiner Wahl siehe Auer 2013.
⁴ Barbara Rosenweins Ausdruck „emotional communities“ ist hier sinnvoll, um „systems of feeling“ in sozialen Gruppen aufzudecken (Rosenwein 2002:842).
⁵ Zu nicht-auditiven Komponenten der Affektmodulation bei Que se lixe a troika siehe Auer 2013:5-7.
⁶ Ausführlicher dazu siehe Auer 2013: 8-10.
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