Zeiten des Unerwarteten
Mit der Krise verbinde ich Zeiten des Unerwarteten. Es ist wohl Teil meiner Berufskrankheit, mich eben zu diesen überraschenden Momenten hingezogen zu fühlen. So verhält es sich auch mit den Ereignissen in der Türkei, die sich ihren Weg durch diverse Kanäle (Bekannte, social media, Presse) bis nach Berlin gebahnt haben: Sie berühren mich und vieles, was ich vorher noch wusste, stimmt plötzlich nicht mehr. Und so scheint es nicht nur mir zu gehen.
Die Ereignisse der letzten Tage strafen die pessimistischen Einschätzungen Lügen, dass sich nie etwas ändern wird. Genauso wenig stimmt für diese Momente das Credo, das Krise oder Verelendung die Menschen früher oder später auf die Straße treibt. Schließlich kann so weder erklärt werden, wieso gerade im Vorzeigemodell der islamisch-neoliberalen Türkei das Projekt eines neuen Einkaufszentrums – dort, wo sich der Gezi-Park in Istanbul befindet – zur Schaubühne des Protests wird (während bei anderen Ereignissen in Istanbul oder andernorts in ähnlichen Situationen nichts passierte); noch kann begriffen werden, was dort gerade entsteht oder welche Rolle Zufälle darin spielen. Doch es scheint, als hätte der Gezi-Park-Protest in Istanbul die Grenzen bislang möglicher Kooperationen schon gesprengt und als würden in einer spannungsgeladenen Zusammensetzung Alternativen längst gemeinsam praktiziert.
Her yer Taksim!
Die Proteste in Istanbul und an vielen anderen Orten lösen etwas in Berlin aus. Hunderte bis Tausende gehen in Berlin zu (spontanen) Kundgebungen und Demonstrationen, basteln Schilder, bemalen ihre T-Shirts, Veranstaltungen finden statt, facebook schäumt über vor Bildern oder Viedos von hier und da, es gibt Flashmobs von den Çapulcu 36 (siehe Foto), Gespräche, Euphorie, es wird gesungen, Artikel geschrieben, einige fliegen prompt nach Istanbul und die die bleiben hängen 24/7 an ihren internetfähigen Handys. Binnen Minuten lernen verschiedenste Menschen die türkischen Slogans vom Taksim-Platz und rufen gemeinsam “faşizme karşı omuz omuza” oder “Her Yer Taksim Her Yer Direniş”.
Noch ist unklar, ob und wie sich diese solidarischen Praktiken verstetigen werden. Eine diffuse und stark affektive Anteilnahme an den Protesten in der Türkei wird dabei schon jetzt deutlich – sie knüpft sehr häufig an Erfahrungen und Geschichten der Berliner türkischen Linken aus der eigenen Familie oder dem Bekanntenkreis, aber auch an alte Konflikte an, denen mit großer Aufregung begegnet wird. Ebenso sind AkteurInnen aus den Protesten gegen Gentrification und die global verstreuten Platzbesetzungen der letzten Jahre in dieser Solidarität präsent. Prozesse der Gentrifizierung und der zunehmenden Unzufriedenheit mit der repräsentativen Demokratie sind beide sowohl in Istanbul als auch in Berlin lokal verankert und gleichzeitig zutiefst global.
S-O-L-I-D-A-R-I-T-Ä-T
Solidarität mit den Protesten mit Istanbul ist zwar kompliziert, aber nicht unmöglich. Während auf dem Taksim-Platz an alternativen Modellen gearbeitet wird, sind darin die materiellen Bedingungen, unter denen Individuen Anteil an der Wirklichkeit haben (können), schon reflektiert. Doch wie sähe das für Berlin in Bezug auf die Proteste in der Türkei aus? Springt der Funke über?
Vermutlich wird bald schon skeptisch auf Unterschiede als Problem für diese Solidarität verwiesen – auf politische Unterschiede oder auf die entlang von Zugehörigkeiten, Geschichten oder Betroffenheiten. Diese Unterschiede sind sicher existent und sie sollen nicht übergangen werden. Doch was wäre, wenn sie der falsche Ausgangspunkt für Solidarität sind? Schließlich sollte nicht der Fehler gemacht werden, zu implizieren, dass Unterschiede und Gemeinsamkeiten naturwüchsig seien. Diese Argumentation führt schnell dazu, den Status quo noch zu untermauern (z.B. indem für eine Solidarität zwischen Nationalstaaten eingetreten wird oder die Unterschiede letztlich Gemeinsamkeiten verbieten – oder umgekehrt).
Das Problem ist vielmehr, nicht nur zu verstehen, welche Unterschiede und welche Gemeinsamkeiten bestehen, sondern vor allem auch, wie diese entstehen und weche Bedeutung sie in Kämpfen erlangen. Das ist wichtig, um nicht bei “There is no alternative” zu landen, was wie gesagt in vielen Momenten der stattfindenden Proteste praktisch und affektiv aufgebrochen wurde.
Wie wird es also weiter gehen, wenn die Zeit bilateraler Solidaritäten vorbei ist? Eine Vermutung dazu ist, dass die bestehenden Kämpfe von Kotti&Co, dem Bündnis gegen Zwangsräumungen und die Proteste der Geflüchteten auf dem O-Platz ein Teil dieser Reflektion werden müssen, so schwierig und widersprüchlich das Verhältnis zueinander auch sein mag. Wer ihnen zuhört, lernt, dass sie schon längst an alternativen Modellen des Gemeinschaftlichen arbeiten, ähnlich wie die Bewegung auf dem Taksim-Platz. Und auch sie kamen alle unerwartet.
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