Angela Merkel war gestern zum ersten Mal seit Beginn der Wirtschaftskrise auf Staatsbesuch in Portugal. Der Medienrummel im Vorfeld war riesig, die Proteste hielten sich in Grenzen.
Wer in den letzten Tagen als Deutsche_r portugiesische Medien konsumierte, konnte sich des Eindrucks kaum erwehren, zu einer neu entdeckten, sehr seltenen und noch viel seltsameren, aber irgendwie doch interessanten oder zumindest Angst einfloessenden Spezies zu gehoeren, die aus gegebenem Anlass genau unter die Lupe genommen werden musste. Wer wollte, konnte rund um die Uhr Artikel ueber angebliche kulturelle Unterschiede zwischen Deutschland und Portugal lesen, Fernsehberichte zu Fragen wie "Wie ticken die Deutschen?" sehen oder bei Reportagen erfahren, wie denn hier lebende Deutsche so ueber ihre portugiesischen Mitmenschen denken - besonders natuerlich, was Themen wie das Funktionieren ihrer Buerokratie und ihre Leistungsbereitschaft betrifft.
Waehrend so Vorstellungen produziert wurden, bemuehte man sich, anderswo welche zu aendern: Mit seinem extra fuer den Merkel-Besuch produzierten Kurzfilm "Ich bin ein Berliner" wollte der politische Kommentator Marcelo Rebelo de Sousa die portugiesische Realitaet zeigen und mit Hilfe zahlreicher Statistiken all die Vorurteile revidieren, die er in deutschen Koepfen vermutete. Die von ihm geforderte Ausstrahlung auf oeffentlichen Plaetzen in grossen deutschen Staedten wurde aus "politischen Gruenden" nicht erlaubt.
Andere Aktionen wandten sich direkt gegen Merkel als "Hauptförderin der neoliberalen Doktrin, die Europa ruiniert", wie es zum Beispiel in einem offenen Brief lautet, in dem Hunderte von Portugies_innen, unter ihnen bekannte Intellektuelle, die Kanzlerin zur "persona non grata" in Portugal erklaeren.
Und auch gesungen wurde im Vorfeld: Der Coro da Achada, der von Auftritten bei einer Hausbesetzung bekannt ist, nahm Beethovens 9. Sinfonie mit einem neuen Text auf und nannte das Lied dann "Bardamerkel", ein Wortspiel, das man in etwa mit "Verpiss dich, Merkel" uebersetzen koennte und das sich den Begriff der "PIIGS"-Staaten aneignet - "sei unwillkommen im Schweinestall", heisst es etwa zum Schluss.
Mit diesen Bildern und Toenen im Kopf machte ich mich gestern auf den Weg nach Lissabon zur Demonstration des Protestbuendnisses "Que se lixe a troika!" ("Zum Teufel mit der Troika!"), das seit seiner Gruendung zur Organisation der Demonstration am 15. September, zu der Hunderttausende von Menschen auf die Strassen gingen, regelmaessig Protestaktionen durchfuehrt. Leitsatz war "Merkel bestimmt hier nicht!". Da die Stationen von Merkels Besuch im Vorfeld lange geheim gehalten wurden, hatten unterschiedliche Gruppen und Gewerkschaften verschiedene Aktionen an unterschiedlichen Orten und Zeiten geplant. Eine gewisse Streuung der Proteste war also zu erwarten. Ausserdem war Montag Nachmittag - nicht gerade die beste Zeit fuer eine Demo. Dennoch ueberraschte es mich, so wenige Demonstrierende auf dem Platz vorzufinden.
Als der Protestzug eine Stunde spaeter als geplant in Richtung Belém loszog, wo Merkel ein deutsch-portugiesisches Unternehmer_innentreffen abschliessen sollte, war das Bild, das er bot, klaeglich: Fast mehr Journalist_innen als Demonstrierende, und unter den Demonstrierenden nur einige Hunderte, die nicht zu den Organisator_innen oder zu einem der anderen anwesenden Buendnisse oder Parteien zu gehoeren schienen. Auch mit den Inhalten der Plakate fuehlte ich mich zunehmend unwohl. Nazi-Referenzen waren allgegenwaertig, Pappmaché-Puppen karikierten Merkel als Hitler-Verschnitt mit Hakenkreuz-Armbinde. Kritiken daran habe ich, wenn sie denn geaeussert wurden, zumindest nicht wahrgenommen.
Vor dem weitlaeufig von der Polizei abgeriegelten Gelaende in Belém verlief sich die Demonstration dann allmaehlich. Ich ging mit dem Gefuehl heim, dass hier heute vor allem ein Feindbild gestaerkt wurde, in das Enttaeuschung, Verzweiflung und das Gefuehl des Ausgeliefertseins projizieren werden.
Die Unterzeichnenden des offenen Briefes an Merkel begruendeten ihre Aktion unter anderem damit, dass die portugiesische Regierung laengst aufgehoert habe, den Gesetzen und der Verfassung Portugals Folge zu leisten und man sich deshalb an Merkel wenden muesse. Auf einer Karikatur an einer Lissabonner Mauer sieht man die Kanzlerin in blauem EU-Gewand als Puppentheater-Spielerin. Ihre Marionetten sind die Protagonisten der portugiesischen Regierung. Merkel kam nicht als Abgesandte der Troika nach Lissabon, sie hatte offiziell nichts zu entscheiden in den nicht mal sechs Stunden, die sie hier verbrachte. Dennoch wird ihr unglaublich viel Macht zugesprochen, wie man an der medialen Aufmerksamkeit und daran sieht, wie sehr sie als Symbol fungiert, als Repraesentatin eines Wirtschaftssystems und zugleich als Platzhalterin fuer all das Unsichtbare und unsichtbar Gemachte in diesem System.
Links:
Der Film von Marcelo Rebelo de Sousa ist hier zu sehen:
Und hier auf deutsch:
Den offenen Brief an Merkel kann man hier lesen:
"Bardamerkel" zum Anhoeren: