Wir müssen reden!

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Kurz nach der deutschen Wiedervereinigung wurden die rassistischen Überfälle und Morde in Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen verübt. In den Medien und politischen Debatten wurden damals Versuche unternommen, diese auf rechte Nazigruppen zu externalisieren oder mit den Zuständen in Ostdeutschland zu erklären. Also Erklärungsmuster heranzuziehen, die bis heute zum Einsatz kommen, um nicht von Nationalismus und Rassismus in Deutschland sprechen oder gar politisch etwas dagegen unternehmen zu müssen.

 

Die Bedeutung dieser Ereignisse ist nicht zu unterschätzen, auch wenn sie 20 Jahre zurück liegen. So wurde 1992/93 das Grundrecht auf Asyl unter Kanzler Kohl mit Unterstützung von CDU/CSU, FDP und der SPD stark eingeschränkt, sodass dieses bis heute in Deutschland kaum noch gewährt wird. Durchgesetzt wurde diese Einschränkung mit der breit anerkannten Begründung, die "Überfremdung" Deutschlands durch die “Asylantenfluten” habe zu den rassistischen Überfällen geführt, es bestehe also Bedarf dagegen zu handeln, denn "das Boot ist voll”. Die Opfer werden zu TäterInnen, irgendwie kommt mir das bekannt vor...

 

Faruk Arslan, Betroffener von den Brandanschlägen in Mölln 1992, stellt in einem kurzen Dokumentarfilm (1) die Parallelen zwischen dem Umgang mit den Anschlägen in Mölln und mit den Ermordeten der NSU heraus: “So wie sie versucht haben, mich in den Dreck zu ziehen, haben sie auch die Betroffenen, die da verstorben sind, reingezogen. Mit dem Titel: Er hat ja Probleme mit der Mafia gehabt. Oder: Wegen den Döner-Sachen, Konkurrenzsachen, haben sie sich gegenseitig umgebracht.”. Auch Ibrahim Arslan betont, dass sich nichts verändert habe und er nun befürchte, dass sich alles wiederhole: “Wir merken heutzutage, dass wir überhaupt kein Vertrauen in niemanden mehr haben können, auch nicht in die Polizei oder in den Verfassungsschutz.”

 

Der Schriftsteller Imran Ayata machte 2011 in seinem Redebeitrag zum Gedenken an die Ereignisse und Opfer in Mölln (2) deutlich, dass auch die antirassistischen Widerstände durch die Debatten und die Gewalt maßgeblich mitgeprägt wurden: Nicht nur neue Begriffe mussten gefunden werden, wie der des Rassismus selbst, um Deutschland und die Ereignisse greifen zu können. Ayata sprach auch von einer neuen Haltung, mit der sich die neu entstandenen Gruppen und Initiativen von dieser Zeit an gegen rassistische Debatten und Handlungen gestellt haben.

 

Denn besonders in den 1990ern bildete sich ein breites Spektrum von antirassistischen und flüchtlingspolitischen Gruppen und Initiativen heraus, wie Die Karawane, The Voice, die No Border-Bewegung, die Kampagne Kein Mensch ist Illegal oder Kanak Attak. MigrantInnen-Selbstorganisationen gewannen in dieser Zeit an Bedeutung.

So entsteht der linke Antirassismus, wie wir ihn heute kennen, in Auseinandersetzung mit den rassistischen Überfällen und dem erstarkten Nationalismus nach der Wende und außerdem in Abgrenzung von und Arbeitsteilung mit antifaschistischen und anderen linken Organisierungen. Dieser Antirassismus entstand aus der Defensive heraus, er reagierte und das war in den 1990er Jahren ein mutiger Schritt, der getan werden musste.

 

Doch wirft die Gedenkveranstaltung am 23. November 2012 in Mölln, nur einige Wochen nach der in Rostock-Lichtenhagen, eine Vielzahl von Fragen auf:

Welche Schritte müssen heute getan werden? Wieso kommt das breit aufgestellte antirassistische Spektrum bis nicht aus der Defensive? Ich meine, wenn sich Rassismen durch alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ziehen, also von den Strukturen staatlicher Institutionen, über rassistische Morde und Schuldzuweisungen an die Betroffenen, bis hin zu alltäglichen Diffamierungen; und wenn sich aktuelle Entwicklungen wie massive Kürzungen aufgrund der Schuldenkrise schon jetzt in Bereichen wie Grundsicherung, Wohnungs- und Arbeitsmarkt, Renten oder Gesundheitssystem besonders rassistisch niderschlagen, warum ist dann das Handlungsfeld des linken Antirassismus so eng?

Oder: Wie kann das Erinnern an die rassistischen Überfälle vor 20 Jahren in die Zukunft weisen?

 

Wir müssen reden!

 

 

 

 

Verweise im Text:

 

(1) Film: Brandanschläge in Mölln - Das Erinnern erkämpfen. Leftvision, 2012.

Auf: http://www.leftvision.de/index.php?option=com_content&view=article&id=18...

 

(2) Redebeitrag zur Gedenkfeier des Brandanschlages Mölln. Imran Ayata, gehalten am 23.11.2011.

Auf: http://www.kanak-attak.de/ka/aktuell/moelln.html